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Wahrhaft verstehen

Ich bin ein Mensch, der unterschiedlichste Schwächen hat. Eine der Schwächen, die mich am meisten stört, ist meine langsame Lesegeschwindigkeit. Ich lese laut genauso schnell wie im Stillen. Ich habe verschiedene Techniken des Schnelllesens ausprobiert, aber mein Leseverständnis fällt immer ins Bodenlose. Aber wenigstens lese ich gern. Weil ich ein langsamer Leser bin, sind ineffiziente Bücher meine Nemesis. Am schlimmsten ist es, wenn die Bücher mir eigentlich etwas zu sagen hätten, aber sie sind durch ihren Umfang undurchdringlich für mich. So habe ich mich schon durch einige lange Bücher gequält.

Wenn ich ein langes Buch mit wertvollem Inhalt lese wie: «Maps of Meaning», ist es interessant, aber in mir steigt eine Wut darüber auf, dass der Autor so ineffizient mit meiner Zeit umgeht. Dieses Gefühl wird natürlich durch mein Lesetempo noch verstärkt. Aber eine Stärke, die ich durch meine Schwäche entwickelt habe, ist die des Zusammenfassens. Ich kann jeden Text, jede Büchlein und jedes Buch in einem Satz zusammenfassen. Ich liebe kompakte, inspirierende Aussagen. Vor allem, wenn sie neu für mich sind und nicht eine Wiederholung dessen, was ich bereits kenne. Diese Fähigkeit, ein 1000-seitiges Buch auf einen Satz zu reduzieren, ist für mich ganz natürlich. Ich bin mir bewusst, dass ich vieles weglasse, aber ich behalte den Funken der Inspiration, den ich in dem Werk gefunden habe.

Eine weitere Schwäche von mir ist das Auswendiglernen oder auch nur das Behalten von Informationen. Mein Gedächtnis funktioniert offenbar anders als das meiner Bekannten. Ich lese viel und vergesse fast alles. Meine Studienkollegen fragten mich nach bestimmten Kenntnissen in den Fächern, aber ich wusste sie nie. Ich konnte weder ein Theorem sagen noch einen Beweis auswendig lernen. Aber ich konnte eine Vermutung anstellen. Sagen: «Es muss sich so oder so verhalten. Zumindest glaube ich das.» Das sind dann Gefühle von mir, aber meistens sind sie wahr. Ich nehme Informationen als etwas auf, das tiefer in meine persönliche Substanz geht, und bringe sie hervor, wenn ich ein Problem habe. Aber weil sie so tief in mir sind, kann ich nicht mehr sagen, woher ich sie weiss.

Diese beiden Schwächen ermöglichen es mir jetzt, Ideen auf neue und kreative Weise zu verbinden. Ich kann schnell Hypothesen aufstellen und testen. Ich kann komplexe Aussagen auf einen Satz reduzieren. Ich kann aus einem unbewussten Ozean von assoziativem Wissen schöpfen und Themen miteinander verbinden. Für mich liegen alle Informationen viel näher beieinander als für andere. Und wenn ich das mit meinen Mitmenschen vergleiche, verstehe ich kaum, wie man anders denken kann. Es gibt also Menschen, die lesen Bücher und können den Inhalt wiedergeben, haben ihn aber nicht in ihr Leben aufgenommen. Das kann ich nicht verstehen. Das ist für mich fremd. Entweder ein Buch verändert mich als Person, oder ich weiss nichts mehr davon.

Daher stammt meine etwas voreingenommene Hypothese: «Erst wenn ein Buch tief in Ihre Seele eingedrungen ist und Sie als Person verändert hat, und Sie Ihr Leben fortan anders führen, haben Sie den Inhalt verstanden.» Alles andere kann Google für Sie erledigen.


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